Graphik

Werner Anders wollte nicht „Herr Anders“ genannt werden.
Er legte keinen Wert auf Höflichkeitsfloskeln, es schien als habe er Sorge, das könne seiner Person oder seiner Arbeit zu große Bedeutung verleihen. Er fühlte sich einfach wohler mit „Werner“ und „Du“.
Aber ich hatte damit ein großes Problem. Werner war der Leiter meines Grafikkurses im Haus der jungen Pioniere, ein Mann Anfang dreißig und in meinen Augen eine absolute Autorität. Ich war fünfzehn. Wie konnte ich zu so jemandem Du sagen? Das Maximale war ein paar mal „Du, Herr Anders“, was ich mir abrang, wobei ich jedes mal die gute Erziehung meiner Eltern verfluchte. Wieso konnte ich nicht einfach lässig wie alle anderen „Hallo Werner“ sagen?

Herr Anders kam oft mit den Worten „Na hier is’ was los!“ ins Zimmer. Er sagte statt „töpfern“ „kneten“ und statt „malen“ „pinseln“ und ließ uns ansonsten machen. Er wollte stets den Eindruck vermeiden, uns etwas beizubringen. Der einzige Rat, an den ich mich erinnere war, am besten eine Armlänge von der Staffelei entfernt zu stehen und nicht ins Bild zu kriechen. Im Nachhinein glaube ich, man konnte von ihm vor allem lernen, wie man fünfzehnjährige Jungs nicht allzu ernst nimmt, ohne dass die sich verarscht vorkommen. Außer Falk und Mario aus meiner Klasse waren noch einige Ältere im Zeichenkurs, einige von uns wollten auch mal was Künstlerisches werden, wie zum Beispiel mein großer Schwarm Denise.
Und dann war da noch Alexander Polzin, mit dem schönen, scharf geschnittenen Gesicht und den stets kurzgeschorenen, rabenschwarzen Haaren.

Alexander Polzin war uns allen irgendwie um tausend Jahre voraus. Er verkehrte mit Werner auf einer viel erwachseneren Ebene, viel mehr Künstlerkollege als Schüler. Einmal malte er ein Bild in giftigem Grün und grellem Rot, auf dem ein kantiges Gesicht hinter Gittern zu sehen war. Es stellte irgendwie Werner dar, das Eingesperrtsein von Werner, womöglich seine verklemmte Beziehung zu den Frauen, was weiß ich. Ich fand das Bild nicht gerade schön, aber ich war sehr beeindruckt. Das war Kunst. Genauso ging es mir mit einem Gedicht Alexanders, das unter uns Jüngeren einmal die Runde machte, die Handschrift des Meisters auf einem abgegriffenen Zettel. Das Gedicht ging so:

Ich schiebe.
Du schiebst.
Er schiebt.
Wir schieben.
Ihr schiebt.
Sie schieben.

Was konnte das nicht alles heißen! Ich wusste eigentlich nicht, was es heißen sollte, doch ich dachte dabei sofort an Schmuggler und Kriminalität und bewunderte den Mut und erst recht die Erfahrung, die es ihm möglich machten, so etwas auf’s Tapet zu bringen. Noch dazu in der DDR.
Alexander war ein großer Fan der Eurythmics. Warum gerade sie es auf seinen Musikolymp geschafft hatten, wer weiß, ich nehme mal an, auch er war nicht komplett gegen guten Pop immun. Wir Jungs schrieben im Zeichenlager in Güstrow jeden Tag unter seiner Anleitung gemeinsam eine kleine Top Ten der besten Lieder und die Eurythmics waren mit „Here comes the rain again“ und „When tomorrow comes“ die ganze Zeit auf vorderen Plätzen. Zu „When tomorrow comes“ spasteten wir einmal früh gemeinsam im Zimmer herum. Irgendwie hatten wir das Gefühl, schon mal einen großen Schritt weiter im Leben zu sein, wenn wir die richtige Musik (die mit dem Gütesiegel der Größeren) hörten.

Im Zeichenlager saß ich einmal an einem ruhigen Nachmittag an einem Tisch und machte mit schwarzer Tusche einen Klecks auf ein Stück weißes Papier. Dann nahm ich einen umgekehrten Pinsel und zog mit der Spitze aus dem Klecks lange dünne, sich verzweigende Spitzen in alle Richtungen. Das ganze sah ein bisschen aus wie Wurzeln oder Blutgefäße oder irgendwas. Dann begann ich die Zwischenräume der schwarzen Linien mit sanften Farbverläufen von dunkelblau nach weiß zu füllen. Während ich gerade in voller Fahrt war, tauchte auf einmal die dunkle Silhouette des gestrengen Alexander Polzin hinter mir auf. Er sah fünf Sekunden auf das Blatt und sagte dann: „Soll das irgendetwas bedeuten?“ Ich sagte mutig und wahrheitsgemäß „Nein.“
„Dann ist es Mist.“ sagte Alexander einfach und ging wieder weg.

Ich erläuterte ihm, während er wegging, dass mein Bild einfach nur schön sein sollte. Nur schön. Ich hatte irgendwie das Gefühl, das sei legal. Aber trotzdem wollte ich das Blatt jetzt so schnell wie möglich verschwinden lassen. Ich war tief getroffen vom Urteil des Meisters und sah meine künstlerischen Ambitionen plötzlich in ganz anderem Licht. Ich kam mir sehr kindisch vor. Am nächsten Tag fuhren wir zum Meer. Mario, ich glaube der einzige von uns Kleinen, der wirklich so etwas wie Talent hatte und eindrucksvolle Landschaftszeichnungen, Portraits und Stilleben aus dem Ärmel schüttelte, setzte sich ganz unbeeindruckt an den Strand und malte ein Ölbild der stürmischen See in lauter Grautönen. Obwohl nicht mal ein Schiff zu sehen war, eben nur Sand, Wasser und Luft, war sein Bild spannend und ausgewogen, sein Pinselstrich irgendwie professionell. Ich saß schräg hinter ihm und malte sein Bild ab. Es war eine eher mäßige Kopie, aber es reichte, um meinen Eltern eine kleine Freude zu machen. Ich ging dann irgendwann nicht mehr zum Zeichenkurs.

Alexander Polzin blieb in meinem Kopf, als künstlerischer Rebell und Scharfrichter allen Mittelmaßes. Ich hörte mir später sehr andächtig seine Lieblingsplatte „Ö“ von Herbert Grönemeyer an und war begierig auf Neuigkeiten von ihm. Irgendwann machte das Gerücht die Runde, er hätte eine Ausstellung in New York. Manchmal sah ich ihn mit wachem Blick die Kreuzstraße entlanggehen. Ich hätte ihn nie ansprechen können, er lebte für mich immer in einer höheren Welt.
Vorgestern habe ich ein Plakat für ein Theaterstück gesehen, Bühnenbild von Alexander Polzin. Schön, dachte ich mir, den kenn’ ich.