Durch die Sierra Maestra

9.1. 20.00 Uhr, Bahnhof Havanna

Die gelangweilt und abweisend schauende Bocaditoverkäuferin behauptet standhaft, keine bocaditos zu verkaufen, während neben ihr eine große Plastekiste davon steht. Ein Mann am Tresen schaltet sich ein, vielleicht aus Langeweile, und sie verkauft mir letztendlich sehr widerwillig doch drei belegte Brötchen.

Vor den großen Eisengittern, die den Zugang zu den Bahnsteigen versperren, häufen sich die Menschen in ausgedehnten runden Schlangen. Man ißt Erdnüsse, raucht, guckt. Dann kommt auf einmal Bewegung in die Menge und es gibt, wie oft in Kuba, ein ordentliches Gedränge. "Achtung, hier ist ein Kind!" "Ach, jetzt haben wir hier vier Schlangen, oder was?", etc. Die Kontrolleure an den Toren wirken seriös und ruhig, sehr ernst. Ich werde das Gefühl nicht los, sie könnten jeden Moment von der Menschenmenge überrannt werden. Und dann? Würde man die Polizei holen? Den Zug nicht abfahren lassen? Schwer zu sagen.

Das Einsteigen geht wie in russischen Zügen vonstatten, an jedem Wagen steht ein Schaffner, man zeigt Fahr- und Platzkarte vor. Vor meinem Waggon stehen ein dünner, oder besser: schmaler Mann und ein Mädchen mit Kopftuch, die sich eine halbvolle Colaflasche in den Busen gesteckt hat.

Im Zug werde ich, scheinbar völlig unmotiviert, von meinem leeren Abteil in ein anderes, ebenfalls leeres, versetzt, trotz obligatorischer Platzkarte. Später erfahre ich, daß in mein Abteil noch Leute kommen werden und die Schaffnerin so ein einzelnes Abteil für sich selbst freigemacht hat. Ich streune durch den Wagen. An der Cafeteria (Cola für 9 Pesos und auf Nachfrage bocaditos, natürlich keinen Kaffee) lerne ich Arnaldo, den schmalen Schaffner, kennen. Wir reden über - naja - das Leben. (Er zitiert Martí: "Nuestro vino es amargo, pero es nuestro vino"). Er ist ein schöner, sehr ausgemergelter Mann, der immer leicht lächelt. Wir verstehen uns sehr gut.

Ich gehe in mein Abteil schlafen. Die Wagen sind alte Reichsbahnwaggons, absolut original, nur die Mülleimer fehlen und Platznummern sind handgemalt, das waren sie in der DDR nicht, oder?

10.1. Zug nach Bayamo

Den Morgen verbringe ich im Abteil, in dem Arnaldo sitzt, mit zwei Schaffnern, Ariana, der Colabusenfrau (der eine der Schaffner nennt sie immer scherzhaft Dolores) und einer redsamen Frau, die mich an das unaufhörlich redende "Schnuckelchen" von unserer Tour nach Pinar del Rio erinnert. Dolores räkelt sich die ganze Zeit auf den Schößen der Männer, die machen Scherze und zweideutige bis eindeutige Gesten und die Frauen lachen und sind das offenbar gewohnt.

Arnaldo überredet mich (ohne nennenswerten Widerstand meinerseits), nicht noch heute weiter nach Bartholomé Masó aufzubrechen. Er führt mich mit ruhigem Schritt durch das lebendige Bayamo, das, mit ihm an meiner Seite, kaum von mir Notiz nimmt, und stellt mich seiner "bayamesischen Familie" vor. Schwarze Mamas, coole Frauen, die mich lächelnd betrachten. Später kommt Angel ("el pequeño gigante"). Er reicht mir kaum bis zu den Schultern, ist aber etwas dicker als ich und sehr gut gelaunt. Ich werde bei ihm schlafen, wird mir mitgeteilt. Angel scheint hier sehr beliebt zu sein, alle Welt kennt und grüßt ihn und macht ein Scherzchen.

Angel wohnt im Haus seiner Cousine Alina und ihrer Tochter. Alina, dünn, große Augen, schüchtern, bittet mich unentwegt um Entschuldigung für die Einfachheit. Die Einfachheit des Hauses, des Essens, und ihre eigene Einfachheit. Es liegt darin keine Spur von Koketterie. Ich werde zum Mittag eingeladen, es gibt alles, was im Hause ist, und Alina entschuldigt sich. Die kleine Zaray ist vom ersten Moment an ziemlich begeistert von mir, irgendwann später tanzen wir beide ein bißchen Salsa in der Küche, ohne Musik.

Angel läßt mich in seinem Zimmer ausruhen und macht (a lo cubano) die Anlage, die nicht protziger sein könnte, so laut an, daß wir uns nur noch schreiend verständigen können. Irgendwann läßt er mich mit der Musik allein. Was ich mich frage, während ich vor den wummernden Boxen sitze, es klingt komisch, aber das geht mir nun mal durch den Kopf: Wird das Ende der Welt ein großes furioses Fest oder eine kleine bescheidene Feier? Und: Während sich viele Berliner in der Einfachheit des Reichtums üben, versuchen sich die Bayamesen in glanzvoller Armut.

Angel und Arnaldo begleiten mich zur ETCSA (dem kubanische T-Punkt), ich rufe bei Josi und Lena in Berlin an. Wenn Lena spricht, scheint sie froh, aber gleichzeitig auch etwas zurückhaltend und ungläubig. Meine 10 Dollar-Telefonkarte ist nach zweieinhalb Minuten verbraucht. Ich rufe noch einmal für 5 Dollar an, man kann kaum Hallo sagen.

Wir beschließen, in die casa de la trova zu gehen. Als wir eintreten, fangen Angel und Arnaldo an, sich langsam zurückfallen zu lassen. Man merkt ihnen an: Sie wollen hier nicht rein und sie machen Anstalten, sich im Vorraum niederzulassen. Ich muß sie überreden, mitzukommen, wir gehen durch einen Torbogen in einen schattigen Hinterhof und setzen uns an einen Tisch im Zentrum und bestellen zögernd drei Bier. Arnaldo wird wie immer selbst bezahlen wollen, obwohl er es sich eigentlich nicht wirklich leisten kann und Angel hat bestimmt keine Dollars und bestellt nichts und sagt auch nichts, als ich für ihn eins bestelle, er betet aber bestimmt innerlich, daß ich das dann auch bezahle. Die Situation ist sehr typisch für Kuba, finde ich, und ein bißchen peinlich für uns alle. Auch die Kellner und die anwesenden Sonmusiker wissen nicht so recht: Sollen sie uns den albernen Cocktail des Hauses anbieten und ihr immer gleiches Programm abspulen, oder paßt das bei uns nicht? Immerhin, ich bin deutlich als Tourist erkennbar, aber Angel kennen sie und wissen, daß sie sich mit dem Cocktail geradezu lächerlich bei ihm machen würden und der spindeldürre Arnaldo sieht auch nicht gerade aus, als wolle er ihnen für 15 Dollar ihre CD abkaufen. Der Cocktail kostet 3 Dollar das Glas inklusive einer kleinen, simultan für mich ins Deutsche übersetzten Rede des Oberkellners (scherzhafterweise wird der enthaltene Rum immer als "Medizin" betitelt).

Eine Gruppe fetter holländischer Touristen schwemmt herein, fett nicht wie "gut gebaut", sondern fett wie Mastschweine. Riesige Leiber mit aufgeschwemmten Köpfen mit dünnen, lila gefärbten Frisuren. Sie sind mir peinlich als wäre ich einer von ihnen und gleichzeitig finde ich den Oberkellner abstoßend, der die neuen Gäste breit lächelnd umschmeichelt und umgurrt. Später kommt noch ein deutsche Gruppe, sie sind gut gelaunt und "frech": Ihr kubanischen Halsabschneider zieht uns nicht so schnell über den Tisch.

Wir hören also drei kleine Konzerte, das winzige für unsere Gruppe mitgerechnet. Die Band ist verdammt gut, ich könnte heulen, aber nach 3-4 Liedern verstummen sie immer, um der Cocktail-Zeremonie Platz zu machen. Sie verkaufen ein paar CDs zu einem Stückpreis, der die Hälfte von Arnaldos Monatslohn ausmacht und warten dann, wie Spieluhrenfiguren, auf die nächste Touristengruppe.

Bananen gibt es an diesem Tag nicht. Zum Abendbrot führt mich Arnaldo zu ein paar Straßenständen direkt am Bahnhof, wo ich eine große Portion bistec cerdo mit Reis kaufe, die wir zu zweit verspeisen. Alina hat mir ausführlich erklärt, daß sie das Essen für Zaray reservieren muß und mich deshalb nicht einladen kann. Es liegt etwas herzzerreißendes in der Art, mit der sie dafür um Nachsicht bittet und ich gebe später Arnaldo 10$, damit er sie Alina gibt, für die Kleine.

Arnaldo und Angel beschließen, am nächsten Morgen, mit nach Bartholomé Masó zu fahren. Angel und ich schlafen im Bett, Arnaldo auf einer Matratze.

11.1. Fahrt nach Bartholomé Masó

Wir stehen um 5.00 Uhr auf, Angel kommt nicht so recht aus den Federn, und Arnaldo redet ihm auf seine leise, freundliche Art zu. Wir verabschieden uns von Alina und trinken noch einen Kaffee auf der Straße. Der Kaffee schmeckt nach Abwaschwasser. Der Zug nach Yara ist unbeleuchtet, gut gefüllt und sehr laut. Meine Begleiter kaufen kein Ticket, sie kennen den Schaffner und unterhalten sich eine Weile mit ihm, als er vorbeikommt. Er wirkt übermüdet. An vielen Stellen hält der Zug einen Moment und Schulkinder springen ab und laufen über Sandwege zu Schulen, die scheinbar in einiger Entfernung mitten auf dem Feld stehen. Wir kommen an einer Zucker- und Rumfabrik vorbei, ein dicker süßlicher Geruch liegt in der Luft. Während der gesamten Zugfahrt kitzeln sich Arnaldo und Angel gegenseitig ab, manchmal werde ich auch einbezogen. Arnaldo kauft drei Lutscher mit Schokogeschmack.

In Yara wirft mir eine eine junge Frau mit einer Katze unter dem Arm einen Luftkuß zu. Wir warten neben einem Mann, der ein Gesicht wie ein Theaterregisseur oder ein Komponist hat, wie geschnitzt, auf einen Camion und nehmen dann später eine machina bis Bartholomé. Währenddessen regelt die ganze Zeit ein junger mongoloider Kubaner wild gestikulierend und Befehle erteilend den Verkehr, aber niemand stört sich daran.

In Bartholomé schlendern wir noch eine Weile herum, Arnaldo gibt auf dem Markt eine Pizza und Guarapo (Zuckerrohrsaft) auf aus, dann gehen wir zum Terminal. "Time to say good bye" sagt Arnaldo und es folgt ein kurzer und herzlicher Abschied. Auf einem Pferdewagen fahre ich bis zur carretera nueva, dann laufe ich weiter in Richtung Santo Domingo. Es kommen so gut wie keine Autos vorbei, ich laufe und laufe. Die Sonne brennt unerbittlich. Ich treffe einige freundliche Campesinos, die sich durchs Leben schlagen ("luchar la vida") und sich interessiert nach meiner Herkunft erkundigen. Und nach meinem Monatsgehalt. Ich kann mir nur vage vorstellen, wie gigantisch die Zahl für sie klingen muß und mein Hinweis auf die ebenfalls hohe Miete macht das ganze vielleicht nur noch beeindruckender.

Später kommt ein älterer Mann mit Sombrero (Reinaldo) mit einem großen Gefährt aus Holz unter dem Arm den Hang hinunter. Es hat vier Kugellager als Räder und eine lenkbare Vorderachse. An der Achse sind zwei große Gummistücken aus Autoreifen angebracht, zum Bremsen drückt man die auf die Straße. Er bietet mir seine Hilfe an und wir ziehen zu zweit auf diesem Wagen meinen Rucksack die Berge hinauf. Die Straßen sind hier sehr, sehr steil. Ein paarmal kommt es mir so vor, als wäre es eigentlich einfacher, der Rucksack auf dem Rücken zu tragen, als zu zweit, aneinandergepreßt an der dünnen Plastikschnur zu ziehen, die sich in die Hände schneidet. Doch spätestens als wir uns am ersten Abhang auf das Mobil setzen, bin ich überzeugt, daß sich das Ganze lohnt. Ich sitze hinter dem alten Campesino und wir rasen am Rand der Straße dahin. Die ist aus Beton und in der Mitte quer geriffelt, damit die Autos Halt haben, am Rand aber ist der Beton glatt und es scheint, als ob man das genau dieser Gefährte wegen so gemacht hat und für die großen Traktorenreifen, die von Ochsen die Berge hochgeschleift werden. Angesichts unserer Geschwindigkeit bin ich froh, daß hier so wenige Autos verkehren.

Auf einem Anstieg beginnt mein Begleiter aus voller Kehle und mit guter Stimme das Lied vom Comandante Ché Guevara zu singen. Als wir zur Bajada de Santo Domingo kommen (die Straße fällt hier fast senkrecht ab), sagt Reinaldo "Bis hierher 3 Chavitos". Ich sage nein, so etwas muß man vorher ausmachen. Er sagt das stimmt, ob ich ihm nicht also was schenken will. Zum Schluß tauschen wir: Mein T-Shirt gegen seinen Sombrero; der stinkt ordentlich und ist mir leider zu klein. Wir trennen uns als Freunde (hoffe ich in diesem Moment und sagt er). Reinaldo kehrt um und ich laufe die Straße hinab. Ich hätte ihm die drei Dollar geben sollen, es war schlecht, daß ich es nicht gemacht habe. Vor mir sehe ich drei Jungen, die große Reissäcke die Straße herunterschleppen und dabei Fange spielen.

Als ich im Hotel, im Centro de Informacion ankomme, informiert man mich, daß die 33$ Eintritt für den Park und die Führung den Führer (guia) nicht einschließen, sondern dieser "extra" mit 10$ am Tag zu bezahlen ist. Das ist (laut Reiseführer) nicht wahr, aber wohl auch nicht wirklich gelogen. Das Problem ist, daß die guias von den 33$ der Touristen nichts abbekommen sondern, theoretisch, von ihren 280 pesos cubanos Gehalt leben müssen, was an Unmöglichkeit grenzt. No es facil. Ich werde sehr direkt und organisiert in eine casa particular geleitet.

Später irre ich umher, um irgendwo Essen für moneda nacional aufzutreiben. Es will nicht in meinen Kopf, daß man hier ständig alles in Dollar bezahlen muß. Bei meinen Nachforschungen treffe ich auf einen der guias, der mir sehr ruhig erläutert, wie es im Nationalpark so läuft. Er ist etwas angetrunken und unterschwellig aggressiv und hat für meine Sparsamkeit kein Verständnis. Irgendwann sagt er plötzlich, ich sei eingeladen, bei ihm zu essen. Er wirkt genervt und sein Blick gefällt mir nicht besonders. Aber gut, das ist es ja, was ich wollte, billig irgendwo essen. Er sagt, bis zu seinem Haus seien es 1,5 Kilometer, und daß er mich nach dem Essen zurückbrächte.

Es geht im Zickzack über den Fluß das Tal hinauf, wir treffen irgendwann seine zweite Frau, mit der er zwei Kinder hat. Seine Hütte ist sehr einfach, es liegen Ziegen und Schafe davor. Sie haben zwei Herde, einen mit Holz und einen mit Kerosin betriebenen, er gibt mir reichlich von dem Essen, das seine Frau für ihn gekocht hat und erklärt mir genau, was es ist. Reis mit schwarzen Bohnen, gebratenes Schweinefleisch, Salat, Wasser. Er setzt sich direkt vor mich und schaut mir beim Essen zu. Er erklärt mir dabei, daß er nichts für das Essen haben wolle, er sei zwar arm und könne es eigentlich gebrauchen, aber er helfe gern. Das klingt natürlich sarkastisch. Er erklärt mir ruhig, daß ein Wellblechstück für sein Dach 10$ koste, ein Stück Wandholz 20$. Seine Frau lächelt immer sehr deutlich wenn sie an uns vorbeikommt, irgendwann kommt noch ihre Mutter, die die Kinder zu Bett bringt. Alles um uns herum wirkt sehr ärmlich und ich schäme mich, während ich esse und er mich nicht aus den Augen läßt. Der Reis schmeckt stark nach Kerosin.

Ich frage ihn, ob 40$ cubanos in Ordnung sind, er sagt jaja, er hat kein Problem. Später tausche ich heimlich das Geld in 5 echte Dollars um, ob er das bemerkt, weiß ich nicht. Er führt mich mit der Taschenlampe zurück, ist ist stockfinster geworden im Tal. Unten im Ort hat man mich bereits gesucht, vor der Hütte stehen mehrere Menschen. Mein Begleiter hat mich schon während des Heimwegs ermahnt, seinen Namen niemandem gegenüber zu erwähnen und jetzt erzählt er allen, ich hätte mich verlaufen und er hätte mich nur zurückgebracht. Juri wird mir vorgestellt, mein Führer, und ich bin sehr erfreut. Er hat einen aufrichtigen, ruhigen Blick und ist der Einzige hier, der mich nicht totquatscht, bzw. was die Alternative zu sein scheint: betreten zur Seite schaut und finster dreinblickt. Er sagt: Wir werden sehen. Ich schlafe schnell tief ein.

12.1. Über den Pico turquino

Mein Wecker klingelt um 6.00 Uhr und ich mache mich fertig. Halb sieben kommt meine Wirtin Larissa und macht das übliche Frühstück. Die Marmelade ist sehr merkwürdig. Ihr Kind schläft noch, hofft sie, sagt sie. Um halb acht gehe ich zur Station, aber Juri ist noch nicht da. Es wird eine kleine Warterei, Wechselgeld für die Parkgebühr gibt es (wie immer) nicht, um 8.15 Uhr gehen wir los.

Die Sonne scheint schon heiß (wollten wir das nicht eigentlich vermeiden?) und der Weg ist steiler als ich mir vorgestellt habe, obwohl im Reiseführer sehr treffend "near vertical" stand. Wir treffen einen Campesino, der Kaffee auf der sonnenbeschienen Straße zum Trocknen ausbreitet. Weiter oben sehen wir einer Ziege bei der einsamen Geburt ihres Zickleins zu.

Das Ende der Straße, Alto de Naranjo, ist ein Parkplatz mit einem Wächter, sonst nichts. Wir essen meine mitgebrachten "Werthers Echte" gemeinsam mit ihm. Rechts geht hier der Weg zum Rebellenhauptquartier von Castros Armee zur Zeit der Revolution ab, links geht es zum Pico. Wir durchqueren die comunidad La Platita, die von einer riesigen Orchideenplantage umgeben ist, an fast jedem Baum kleben sie, aber viele erspähe ich nur, wenn ich mit dem Blick Juris Finger folge.

Wir verweilen kurz, Juri bekommt zwei Zigarren für einen Freund mit auf den Weg. Bald sind wir wieder unterwegs, durch Bananenanpflanzungen und Mandarinenhaine, die sich in den Wald schmiegen. Wir schmeißen eine ganze Weile mit Stöcken nach den Mandarinen und gehen mit neuer Verpflegung weiter. Ansonsten verweilen wir aber immer nur genau "dos minutos". Juri hat einen flotten Schritt und ich nehme es auch sportlich.

Als wir am campamiento Joaquin ankommen ist es ca. 14.30 Uhr, die Höhe beträgt 1250m und mir zittern die Beine. Hier wohnen drei junge, bärtige Männer, sie machen hier offenbar Dienst als Parkangestellte, vielleicht auch Meteorologen. Wir bekommen ein wenig zu Essen und Juri schickt mich hinab in einen Seitental, Wasser holen. Er schont sich, mein Führer, ich trage die ganze Zeit einen schweren Rucksack, unter anderem mit 3 Litern Wasser, auch für ihn mit, und er hat nur ein kleines Rucksäckchen. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Dableiben oder weiter bis zum campamiento Pico Cuba. Die drei raten uns ab, heute noch weiterzugehen, Juri ist unsicher, eigentlich will er am liebsten gleich noch heute über beide Gipfel bis zum campamiento Las Majaguas, am Fuße der Sierra, fast am Meer und kurz vor der Ortschaft Las Cuevas. Wir beschließen, erst einmal weiterzuziehen, nachdem ich die Flaschen an einer Quelle gefüllt habe.

Der Weg ist in einem liebevoll gepflegten Zustand, an allen Raststellen gibt es Mülleimer aus gefalteten Bananenblättern und die schmierigen Wege sind an den schlimmsten Stellen mit Holz befestigt. Es hängen auch viele aus Holz geschnitzte Lehrtafeln an Bäumen, auf denen Details zu den jeweiligen Vegetationsformen und Sehenswürdigkeiten beschrieben sind. Aber außer uns ist niemand unterwegs.

Die Aufstiege sind jetzt sehr kräftezehrend, wir sind mitten in den Wolken und mein Hemd ist tropfnaß. Juri eilt, ich bemühe mich schrittzuhalten, mein Rucksack wiegt irgendetwas zwischen 15 und 20kg, ich bin erschöpft. Juri hält oft unvermittelt an und zeigt auf irgendetwas. Meist dauert es eine ganze Weile, bis ich es auch sehe. Viele Vögel wohnen hier: Tocororos haben eine rauhe Stimme und sind wie die kubanische Fahne rot-weiß-blau, der kleine Carta Kuba hat einen hübschen Gesang, der Zunzun ist ein Kolibri und fliegt wie ein Schmetterling und der Reyseñor singt ganz ähnlich wie eine Nachtigall.

Es gibt Mojas, kleine Schlangen die gern in den Vertiefungen der Agavenblätter liegen und Moscas del diablo, vermutlich sind das kleine Verwandte der Wespen, sie verfolgen Spinnen, lähmen sie mit einem Stich und essen sie danach auf. Ich bin sprachlos, als Juri plötzlich auf eine kleine Wespe zeigt und ruhig sagt "Sie sucht eine Spinne, um sie zu töten" und wenige Momente später kommt eine Spinne dahergekrabbelt und wird getötet, wie in einer Theatervorstellung. Auch die Wolken spielen Theater, kriechen über die Hänge und tanzen vor uns herum. Die Felsen sind jetzt moosbewachsen, überall gibt es Farne und Orchideen in den Bäumen. Von einem Fels unterhalb des Picos haben wir einen guten Ausblick, den wir nutzen müssen, denn der eigentliche Gipfel ist mit Bäumen zugewachsen, so daß man kaum in die Ferne blicken kann.

Es gibt aber doch eine Möglichkeit, vom Gipfel aus über die Baumkronen hinwegzusehen, man muß, sich an den Ohren festklammernd, die Statue José Martís erklettern und sich auf seinen Kopf setzen. Das ist verständlicherweise nicht legal, aber Juri erteilt mir eine "autorisacion".

Walderdbeeren gibt es hier. Wir bleiben ca. eine halbe Stunde, dann geht es weiter zum Schwestergipfel Pico Cuba und der Weg ist im Vergleich jetzt ein Kinderspiel. Es gibt eine atemberaubend schöne Aussicht in Richtung der Küste: el teatro de las nubes. Man blickt durch kristallklare Luft in Richtung des Meeres und plötzlich bilden sich direkt vor den Augen, tanzend und kreisend, Wolkenfetzen, wirbeln umeinander, steigen auf und werden langsam über den Kamm geweht. Es ist magisch. Wir steigen nach einer Weile hinab zum campamiento Pico Cuba, vorbei an einem altertümlichen verlassenen Dieselgenerator, der aus der Zeit stammt, als sich hier noch Kaffeeplantagen über die Hänge erstreckten. Die Sonne wird bald untergehen.

Zwei ältere Männer sind im campamiento, einer länglichen Holzhütte am Hang, einer kocht gerade, der andere zerstampft gerösteten Kaffee in einem Mörser. Wasser ist hier knapp, aber vorhanden, ein Fernseher auch. Auf Nachfrage finden die beiden auch eine Decke ("coldon") für Juri, wir bleiben. Wie gut der gezuckerte Kaffee jetzt tut, und auch meine süßen Kekse aus Bayamo schmecken mit jedem Tag besser. Es gibt Reis ( ... Baby, denke ich beschwingt) mit Bohnen (wer hätte das gedacht), Gurkensalat, das ist, neben den Keksen, mein Anteil, und Fisch aus der Büchse. Reichlich und gut. Dann Kaffee. Wir schauen gemeinsam, aus drei Zimmern in den Gang schauend, "El Medallon", eine kubanische telenovela über die Piratenzeit. Die Schauspieler sind kaum zu ertragen vor Pathos, man glaubt ihnen kein Wort, egal was sie sagen. Ein ganzer Raum der Station ist vollgepackt mit Batterien, damit nach Sonnenuntergang der Fernseher nicht ausgeht. Auch ich habe meine Taschenlampe auf das Dach der Station gelegt, um sie in der letzten Abendsonne wiederaufzuladen.

Juri und ich gehen später mit unseren Taschenlampen zum meerseitigen Hang, um zu erkunden, ob man gerade Jamaika am Horizont sehen kann - kann man nicht. Juri trägt die graue Wollstrickjacke meines Vaters, er hat außer dem T-Shirt am Leib nichts dabei. Später im Fernsehen: Eine Episode aus El Chés Leben in der Sierra und die Gründung von radio rebelde. Ich schlafe sehr gut, habe nur Husten von der ganzen Raucherei in Habana und Bayamo.

13.1. Zur Küste

Am nächsten Morgen, in aller Frühe. Die beiden Stationisten kommen mehr oder weniger geregelt und schnaufend aus dem Bett, Kaffee wird aufgesetzt, gestern wurde er gemörsert, heute wird er in einer großen Aluminiummaschine zubereitet, wie immer criollo, also sehr süß.

Juri ist auch schon auf, Zähne geputzt, Gesicht benetzt, schon geht es los. Ich esse, glaube ich, ein Brötchen im Gehen. Der Wald wird lichter, wir sehen noch ein paar Tocororos aus nächster Nähe und eine große grüne Fliege, die völlig unbeweglich in der Luft verharrt, ich kann buchstäblich um sie herumlaufen, während ich versuche herauszufinden, wo vorn und wo hinten ist. Plötzlich schießt sie mit einem lauten Aufbrummen davon.

Wir erreichen die Wiederaufforstungsstation. Es gibt Bier und refrescos. Es wird ein Stacheldrahtzaun errichtet, wozu ist mir nicht klar. Bald danach sind wir in Las Cuevas. Ich wasche meine Sachen, der Hüter der Station teilt sein Mittag mit mir und ich setzte mich und warte auf einen camion. Juri verabschiedet sich bald und eilt sofort zurück, er will den Rückweg an einem Tag schaffen. Der Strand ist steinig, man kann weit die Uferstraße hinaufsehen und das Meer ist schön, viele Haie soll es hier geben.

Mit dem Camion geht es nach Chivirico, die Sonne verbrennt mir das Gesicht oder wahlweise den Nacken, ich habe dummerweise meinen Sombrero verloren. Auf dem Camion ist eine schöne, indisch anmutende Frau, sie hilft mir in Chivirico, das Terminal zu finden. Im dunklen Restaurant des Terminals esse ich pollo con arroz y yucca mit drei Bechern kaltem Wasser. Der Bus nach Santiago ist noch leer. Er füllt sich langsam im Laufe der Fahrt, neben mir hockt ein schwarzes Mädchen mit Überbiß, nach dem was ich hier so gesehen habe, ist sie Nucklerin. Sie wird ständig von ihrem Freund berührt und gekitzelt und kratzt ihn irgendwann zurück. Schräg vor mir eine traumhaft schöne Kubanerin, groß, breites Gesicht, schöne Brüste, strahlendes Lachen. Sie hat einen Schmuckstein an einem Zahn, der wirkt und läßt mich den Blick nicht von ihrem Mund wenden. Sie redet, lacht, redet und dreht sich dann zu einem älteren Mann hinter ihr um und schäkert mit ihm. Als es draußen Mandarinen gibt, schlägt sie laut die Hände zusammen und ruft "Ay, mandarinas" und dann wird gnadenlos der alte Mann losgeschickt, um für sie welche zu kaufen, was er auch sehr gern macht.

Irgendwann schenkt sie mir plötzlich eine, wahrscheinlich weil ich sie die ganze Zeit so anstarre (und ich muß mich schon sehr zusammenreißen, um zwischendurch auch mal einen Blick auf die abwechslungsreiche Landschaft zu werfen). Hinter uns quiekt auf einmal laut ein Schwein auf. Ich schenke ihr meinen letzten "caramello de oro", wie ich die Werthers Echte auf Nachfrage betitle. Etwas später blicken wir uns drei Sekunden in die Augen und wenn sie mich jetzt fragen würde, wohin ich fahre, würde ich ohne zu zögern sagen "contigo, haste el fin del mundo". Bestimmt hat sie im nächsten Dorf einen Mann und zwei Kinder. Sie steigt irgendwo vor Santiago aus.

In Santiago spaziere ich die Heredia entlang, finde aber die casa particular aus dem Reiseführer nicht. Maria, klein, schwarz, 43 Jahre und Kellnerin in "La cocinita", der Bar, die sich genau dort befindet, wo eigentlich die casa particular sein soll, hilft mir dabei, eine andere Unterkunft zu finden. Dort öffnet uns eine Frau mit kurzen, weißen Haaren, sie sieht ein bißchen aus wie die eine von den "Golden Girls". Es kostet 20$ die Nacht, das Frühstück ist nach etwas Hin und Her dabei, Fräuleins sind verboten.