Er holte sehr tief Luft und atmete dann mit einem Brummen wieder aus. Dann stopfte er sein Hemd in die enganliegenden Lederhosen. Er hatte diese Hosen schon seit 20 Jahren an, seit Jenny tot war, selbst im Bett zog er sie nie aus. Das war irgendwie Teil seiner Individualität.
Der Marshal war jetzt 45 Jahre alt, hatte aber noch einen Körper wie eine Alaska-Eiche: Groß, braun und knorrig, biegsam und mit grünem Laub. Er war darauf ein bißchen stolz, denn bis auf seinen Onkel Pat waren alle aus seiner Familie von kleiner zerbrechlicher Statur. Sie stammten aus Irland, waren vor fünf Generationen in den wilden Westen ausgewandert und dem Marshal war es schon in seiner Kindheit ein Greuel gewesen, die vielen Ahnenbilder seiner zwergwüchsigen Vorfahren, die im elterlichen Holzhaus die Gänge bevölkerten.
Er selbst schlug völlig aus der Art. Seine Beine füllten die Lederhosen von innen wie Teewurst. Der Stern an seiner Brust klimperte beim Gehen an den stahlharten Muskeln. Sein federnder Gang war der einer Wildkatze und sein wilder rotflammender Haarschopf brachte die Frauen noch immer um den Verstand.
Er kämmte sich niemals.
Er besaß auch keinen Kamm.
Der Marshal war ein ganzer Mann, wie ihn selbst der wilde Westen nur einmal in hundert Jahren hervorbringt. Vor ihm zitterten sie alle.
Er konnte aber auch sehr witzig sein, ein richtiger Clown. Dann stapfte er mit einer lustigen rosaroten Brille und einem schaukelnden Papierpenis durch die Stadt und wenn die Frauen kreischend davonliefen, schoß er ihnen mit Platzpatronen hinterher. Das war sozusagen die Sonnenseite seines männlichen Charakters. Im Moment war er jedoch sehr ernst. Daher kann man auch verstehen, warum er dem alten Jack Daniels, der gerade vorbeikam und sagte "Hey, Marshal, sie sehen aber ernst aus!" den Bauch voll Blei pumpte. Er war eben nicht zum Scherzen aufgelegt.
Es war Mittag, so ca. 5 vor zwölf. Der Marshal hatte einen Mordshunger. Aber gut, das war im Moment nebensächlich. Er hatte ganz andere Sorgen. Der Augenblick, auf den er seit 10 Jahren gewartet hatte, stand kurz bevor. Dennoch war er äußerlich völlig ruhig und innerlich so lala.
Vor einer viertel Stunde war sein Hilfsmarshal und Halbbruder Jeff O´Brien atemlos durch die Tür gerannt gekommen. Sie war noch verschlossen gewesen und so blutete er stark aus der Nase während er mit überschnappender Stimme schrie: "Die Cohen-Brüder sind in der Stadt !"
So. Das war ein starkes Stück. Er klammerte sich für einen Augenblick an seinen Schreibtisch, aber dann hatte er sich auch schon gefangen. Sie waren da, hatten es gewagt.
Jetzt wollten sie es wohl wissen.
Die Cohen-Brüder waren 5 gewalttätige Halunken aus Texas. Pferdediebe, Taschenspieler und Revolverhelden. Er hatte sie vor langem, als junger Hilfssheriff einmal quer durch die Prärie gejagt und zwei von ihnen abgeknallt. Darauf hatten sie sich an ihm gerächt. Jenny, die Blume der Prärie und die einzige Frau, die er je in sein hartes Männerherz gelassen hatte, war ihr Opfer geworden, sie hatten sie an einen Baumstamm gebunden und in den Missisippi geworfen. Er hatte damals versagt.
Zu dem Zeitpunkt als Jenny gerade an New Orleans vorbeischipperte hatte er im Saloon gesessen und um ein neues Pferd gepokert. Tief in seinem Cowboyherzen hatte ihn die sanfte Stimme seiner Mutter immer aufs Neue ermahnt, nach Haus zu gehen und nach seiner Frau zu sehen, aber er hatte einfach so getan, als ob er durch den Lärm im Saloon nichts hören könnte.
Als er später besoffen wie ein Mann nach Hause kam und die Fenster zerschlagen, die Scheune verwüstet und die Tiere ermordet vorfand, konnte er nichts mehr machen. Er mußte sich erstmal hinlegen.
Am nächsten Morgen schwor er am Fuß der uralten Alaska-Eiche auf seiner Ranch ewige Rache.
Er ritzte sich mit seinem Messer ein großes blutiges R in beide Unterarme und wurde so stets, wenn er sich wusch, an seine bittere Pflicht erinnert. Die Cohen-Brüder waren nach der Tat spurlos verschwunden. Nur hier und da hörte man, sie seien wieder irgendwo aufgetaucht und hätten eine Bank überfallen, eine Postkutsche angehalten oder eine Brücke gesprengt. Aber zu fassen bekam man sie nie. O´Brien hatte die letzte Hälfte seines Lebens der Verfolgung dieser Bande geopfert. Davor hatte er andere Sachen gemacht.
Er zog langsam seine ehemals vergoldete Taschenuhr aus der Weste.
Sie hatte noch nie eine andere Zeit als 5 vor zwölf angezeigt. Aber das war egal, denn erstens stimmte es jetzt, zweitens konnte er immer seinen Hilfsmarshal nach der Zeit fragen und drittens ging es im Moment um etwas ganz anderes. Er hatte diese Uhr von Jenny bekommen.
Damals hatten sie sich heimlich in einem alten Heuschober getroffen und als er gerade dabei war, sie zu entkleiden wie ein Mann, hatte sie mit sehr ernstem kindlichen Ausdruck diese Uhr aus dem Mieder gezogen. "Da, nimm, ich habe mein Sonntagskleid dafür verpfändet. Sie soll dich stets begleiten, wenn du Bösewichter verfolgst." Dabei blickte sie mit großen Augen zu ihm auf. Er bedankte sich auf seine Art und verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. Sie sank in seine starken Arme und gab sich ihm im Heu hin.
Das war damals.
Ein anderer an seiner Stelle hätte jetzt vielleicht geweint, aber nicht O´Brian. Er hatte noch nie geweint. Warum jetzt damit anfangen ?
Er öffnete die Schwingtür mit der Brust. Seine Schießeisen waren entsichert. Er hatte zwei am Gürtel einen im Rücken und in jedem Hosenbein einen kleinen Säbel.
Sein Gang war fest und bestimmt. Er nickte dem Barkeeper zu und ging langsam zur Mitte des Saloons. Er tat, als beobachte er die Spinne, die sich langsam vom Ventilator abseilte und wahrscheinlich schon einen ordentlichen Drehwurm hatte.
In Wirklichkeit war ihm die Spinne egal.
Er sah sich aus den Augenwinkeln um. Da waren sie, die Kerle, die sein Leben zerstört hatten. Sie lümmelten am Tresen und machten an den Animiermädchen rum. Das machte ihn richtig wütend. In dem Augenblick, da er den Saloon betrat, hatten die Mädchen aufgehört zu kichern und machten sich bereit, nach hinten zu verschwinden. Sie waren natürlich alle verliebt in Joe und wollten ein Kind von ihm. Er hatte aber immer aufgepaßt. Er war ein Kerl, wie er im Buche steht.
Die Stille war zum Verrücktwerden.
Irgendein Cowboy, der die ganze Zeit still an seinem Tisch gesessen hatte, den Kopf in die Hände vergraben, wurde auch prompt verrückt und begann, um sich zu schießen. Joe stellte ihn ruhig. Jetzt drehten sich die Cohen-Brüder langsam zu ihm um. Der Marshal ballerte ohne eine Miene zu verziehen, seine Magazine in die Decke. Er hatte ja noch seine Säbel. Er wollte sich Gehör verschaffen.
Das wäre eigentlich nicht nötig gewesen, denn auch vorher hatte ja niemand gesprochen, aber jetzt lag immerhin der laute Ventilator am Boden, unter ihm die zerquetschte Spinne. Kein Mucks war zu hören. Der Barkeeper war unter dem Tresen verschwunden. Alle blickten ihn an.
Joe O´Brian begann langsam zu sprechen. Er erzählte die ganze Geschichte, genau wie sie gewesen war. Er ließ nichts aus, nicht einmal, daß er damals, vor 20 Jahren, versagt hatte. Seine Rede war sehr lang. Er hatte auch ein paar Anekdoten eingebaut, aber niemand traute sich, zu lachen. Seine Stimme zitterte nicht einen Augenblick. Als er geendet hatte waren alle sehr gerührt. Der Mann am Klavier wollte gerade etwas Trauriges spielen, da rührte sich der Anführer der Cohen-Brüder und wollte etwas sagen. Eine Entschuldigung oder sowas. Joe ließ ihn nicht einmal die erste Silbe vollenden sondern schnitt ihm mit einem Hechtsprung die Zunge heraus. Er war ein Mann der Tat. Von nun an sah man nur noch Säbel. Als alles vorbei war, setzte sich der Marshal auf einen Barhocker und schmunzelte. Er bestellte einen Whisky und versuchte sich an die erste Zeile des Gedichtes zu erinnern, das er einmal vor über 20 Jahren für Jenny geschrieben hatte. Er kam nicht drauf. Aber das war jetzt auch egal.
Der Mann am Klavier begann zu spielen.